Die Situation im Dar wurde immer unerträglicher. Von Tag zu Tag kamen mehr Leute, um da zu wohnen, und noch dazu sollten bald die zwanzigtägigen Feiern zum Geburtstag von Sydna el Hussein beginnen. Drei Wochen mit täglich hunderten von Leuten im Haus. Ich beschloß, mich einfach selber mehr zum Mitmachen anzutreiben, denn sonst würde es unerträglich werden: mehr arabisch lernen, mehr Aurad machen, mich stärker in die Vorstellungswelt der Tarieqa integrieren. Aber es war schwer. Alle Menschenfreundlichkeit, um die ich mich bemühte, war nur eine Tünche. Immer wieder bewunderte ich besonders die Sudanesen für ihr ungezwungenes Interesse an den anderen. Genau das hatte ich ja auch in Amerika an den Schwarzen so bewundert, aber ich war damals nicht einer der Ihren geworden - ob es mir jetzt im zweiten Anlauf gelingen würde mich so sehr zu verändern?
Kaum aber hatte ich den festen Vorsatz gefaßt, mich mehr anzupassen, wurde mir gesagt, ich könne nun jeden Tag während des Fests für Sydna el Hussein mit Hamdi Gindi sprechen und ihm meine Fragen stellen.
Schon bei meinen ersten Versuchen, mich mehr zu konzentrieren und mehr Aurad zu machen, stieß ich allerdings an meine Grenzen und ich fragte mich, ob es nicht einfach mein Schicksal war, daß diese Station nicht die letzte sein sollte in meiner Suche nach meinem Weg. Aber wenn ich versuchte, mir vorzustellen, wie es anderswo sein würde, sah ich wenig Chance, daß ein anderer Lehrer seine Methode auf mich zuschneiden würde. Wahrscheinlich war es überall so, daß nicht der Lehrer sich anpaßte, sondern der Schüler. Und mit den Lehrern von Castaneda würde es mir vielleicht auch nicht anders gehen.
Am ersten Tag des Fests erschien Hamdi Gindi nicht zu unserem vereinbarten Treffen. Dafür tauchte ein Amerikaner auf im Dar, Salah el din. Er wußte sehr viel über den Islam und die Sufis und da er nur kurz Zeit hatte, machte er seine Besuche ganz gezielt. Er hatte gleich am ersten Tag in Kairo einige Muslim-Brothers kennengelernt und am nächsten Tag nahm er mich mit zu einem Treffen mit ihnen. Es waren sehr liebe Leute, aber schrecklich ängstlich darauf bedacht haargenau in die Fußstapfen des Propheten zu treten. Beim Gebet, wo sich ja alle in einer Reihe aufstellen, hatten sie eine Linie auf den Boden gezeichnet und sie begannen nicht, bevor nicht die großen Zehen eines jeden genau an diese Linie stießen. Dann wollten sie uns erklären, daß die Sufi-Tarieqas unislamisch wären, weil es sie zur Zeit des Propheten nicht gegeben habe und sie meinten, daß allein die Professoren der Azhar-Universität Koran und Hadith authentisch auslegten. Daß die Azhar-Universität auch beste Beziehungen zu den Regierungen hatte, die die Muslim-Brothers auch für unislamisch halten, störte sie sonderbarerweise nicht.
An dem Abend kam Hamdi Gindi und hatte zwanzig Minuten Zeit für mich. Seine Auskünfte überraschten mich nicht. Er wurde sehr ungeduldig, als ich ihn über seine Vorstellungen zu den Religionen anderer Völker fragte. Als ich ihm sagte, der Koran spreche doch davon, daß jedes Volk seine Gesandten gehabt habe, sagte er, der Koran erwähne nur die jüdischen und damit war die Sache für ihn erledigt. Ein paar mal bezog er sich darauf, daß er Mathematik studiert habe und daher ein logischer Denker sei, aber immer, wenn es mir auf Logik ankam, zog er sich aus der Affäre mit dem Argument, daß die Wahrheit Gottes die Logik übersteigt. Er meinte ich sei "einer, der die Dinge so lange auseinandernimmt, bis nichts mehr übrig bleibt" und damit hatte er recht. Was die Physiker mit der Materie machen, möchte ich mit dem Geist tun und ich war sicher, ich würde hier ebenso an den Punkt kommen, wo die Synthese der Teile höchst energetisch verläuft. Aber Hamdi Gindi wollte sich auf keine Experimente einlassen. Er war am Ende unseres Gesprächs ziemlich sauer und ich fragte mich wieder, was mich hier eigentlich festhielt. Ich war sicher, daß mir keiner der Wissenden hier, falls es die überhaupt gab, etwas zu dem sagen würde, was ich wissen wollte, bevor ich nicht von Herzen allem zustimmte, was sie sagten und taten. Theaterspielen war unmöglich und Zustimmen auch, solange das Gewicht der Unlogik nicht durch sehr starke Gefühlsargumente aufgehoben wurde. Wenn ich nicht denken durfte, mußte ich sehen und was ich bis dahin gesehen hatte, reichte nicht aus, denn ähnliche Brüderlichkeit wie hier gab es auch im Christentum und bei den sogenannten Primitiven, wahrscheinlich überall, wo das Klima so warm war wie hier. Und die Vorstellung von einer einheitlich islamischen Welt, mit der ich hier dauernd konfrontiert wurde, schien mir unmöglich. Allein die Vorstellung eines islamischen Deutschland, daß sich sechzig Millionen Deutsche zu den Gebetszeiten nach Mekka wenden würden, war völlig absurd. Hamdi Gindi sprach ein hervorragendes Englisch und er war viel in Europa und in Amerika gereist, aber der europäische Geist war ihm vollkommen fremd geblieben. Er verstand nicht, wovon ich sprach.
Am nächsten Tag kam ein anderer Amerikaner. Der war sein ganzes Leben lang schon Moslem gewesen und er betreute in Chicago eine Gemeinde. Mit ihm konnte ich mich besser verständigen, aber er war nicht gerade ein Intellektueller und wußte die Dinge einfach nicht, auf die es mir ankam.
Obwohl wir wieder ein Treffen vereinbart hatten, kam Hamdi Gindi nun zwei Abende lang nicht. Und am dritten Abend traf ich ihn nur zufällig, als er nach Mitternacht Scheich Ghafar abholen wollte. Als er meinen fragenden Blick sah, sagte er, ich hätte letzhin nur unzusammenhängende Fragen gestellt und alles abgelehnt, was er gesagt habe. Er habe den Eindruck, ich sei verwirrt und nur darauf aus, alle anderen auch zu verwirren. Er aber wisse genau, was er wolle und er habe keine Zeit für Konfusion. Was er sagte, klang so feindselig, als würde er mich hinauswerfen wollen. Ich sammelte all meine Energie und sagte ihm, daß ich das Gefühl hätte, er wolle mit seinem Angriff nur seine Ungeduld zudecken und wenn er jetzt froh darüber wäre, daß er mich in sein Gedankenschema eingeordnet hätte, dann hätten wir tatsächlich nichts mehr miteinander zu reden. Nun wurde er ruhiger und sagte, er habe kein Ziel gefunden in meinen Fragen. Ich sagte, er könne in zwanzig Minuten, von denen er kaum je zuhöre, nicht erwarten, daß ich ihm dieses Ziel genau erklären könne. Schließlich sagte er, er würde am nächsten Abend wieder da sein.
Ich hatte diesmal nicht so sehr vor, ihn irgendetwas zu fragen, denn das war hoffnungslos, ich wollte ihm nur etwas über mich erzählen und dann einfach hören, was er zu sagen hatte. Um darauf auch richtig eingestimmt zu sein, ging ich am nächsten Tag zu Sydna el Hussein und zu seiner Schwester Sayida Seynab, die sich laut Scheich Ghafar der Entfernten annimmt. Hamdi Gindi kam diesmal schon um halb zehn. Ich versuchte, ihm mit meiner Geschichte zu zeigen, wie ich auf die Frage nach der Relativität der Religionen und der Steuerbarkeit der Wirklichkeit durch den Glauben gekommen war. Das hatte ihn ja das letzte Mal so aufgeregt.
Er sagte darauf, ich glaubte an die Allmacht des Trainings und das sei falsch und nun erklärte er mir, wie er den Glauben sah, nämlich einfach als Annahme des Wortes Gottes.
"Der Sufismus beginnt, wenn ein Mensch den Wunsch nach dem Paradies aufgegeben hat, und statt dessen einfach gibt, aus Dankbarkeit für die unendliche Liebe Gottes. Wir können Gott ohnehin niemals all das zurückzahlen, was er uns gibt, aber wir können wenigstens unsere Anerkennung zeigen."
Er sagte, er halte nichts von wissenschaftlichen Erklärungen, denn die führten immer dazu dem Wesentlichen auszuweichen. "Jemand könnte zum Beispiel herausfinden, daß das Fasten dem Verdauungssystem dient und dann erfindet er eine Pille, die den gleichen Zweck erfüllt; in der Religion aber geht es ganz einfach darum, das Wort Gottes zu befolgen, ohne Fragen zu stellen, denn sobald man fragt, will man einen Zweck erfüllen, aber wer Gott mit Kalkulationen kommt, dem kommt Gott auch mit Kalkulationen und das kann nicht gut ausgehen für den Menschen."
Mitten in das Gespräch hinein kam ein Tourist, der von der Straße aus die Hadra gehört hatte und nun herausfinden wollte, was das war. Die Brüder hatten ihn gleich zu uns hereingeschickt und das traf sich gut, denn der Mann stammte aus der deutschen Schweiz, ein Arzt, der sich schon mit Sufismus beschäftigt hatte und nun, an seinem ersten Tag in Ägypten, war er gleich mitten hineingeraten.
Als Hamdi Gindi ihm sagte, ich sei Moslem geworden, fühlte ich mich ziemlich unangenehm, denn der Schweizer konnte das nur mißverstehen. Noch schlimmer wurde mein Gefühl, als er bei seiner Erläuterung von Einzelheiten des islamischen Glaubens darauf zu sprechen kam, wie Maria Jesus empfangen habe:
"Wir wissen, daß Jesus bereits vier Stunden und zwanzig Minuten, nachdem Maria ihn empfangen hat, geboren wurde. Für Gott ist so etwas kein Problem. Er kann tun was er mag."
Mir drehte sich fast der Magen um, als er das sagte, aber der Schweizer zuckte nicht mit der Wimper. Er hörte sich alles geduldig an und fragte sehr interessiert und am Ende sagte er, er würde bestimmt wiederkommen, um mehr davon zu hören. Natürlich ist er nie mehr aufgetaucht.
Abgesehen von diesen Peinlichkeiten war ich sehr befriedigt von dem Abend. Das Argument vor allem, daß der Sufismus dort beginne, wo das Zweckdenken aufhöre, leuchtete mir voll ein. Nur wie ich über die Absurditäten hinwegkommen sollte, konnte ich mir nicht vorstellen.
Allerdings war die Tatsache, daß ich damit Schwierigkeiten hatte, selber eine Absurdität, wo ich es doch der Madame Blavastky ohne weiteres geglaubt hatte, daß indische Fakire in zehn Minuten aus einem Samen eine beinahe ausgewachsene Pflanze wachsen lassen können durch ihren Glauben. Im Grunde waren die Absurditäten des Islam nicht absurder als die irgendeines anderen Glaubens, einschließlich dem des materialistischen Alltags im zivilisierten Westen. Damit alles möglich wurde, mußte man natürlich zuerst glauben, daß alles möglich war. Und ich, der ich glaubte, daß die Wirklichkeit vom Glauben abhängt, wollte unter gar keinen Umständen glauben, was Hamdi Gindi über die Geburt Jesu gesagt hatte. Gab es einen Weg diese Absurditäten zu akzeptieren?
Ich ging nocheinmal durch alle die Gründe, die für den Islam sprachen. Seit Scheich Mahmud Abu Bakr gesagt hatte "aber du brauchst einen Lehrer", war eine Verbindung hergestellt und laufend wurde sie bestärkt, besonders durch die Liebenswürdigkeit der sudanesischen Brüder, aber zuletzt auch durch Hamdi Gindis Erklärung seines persönlichen Glaubens. Auch was der amerikanische Moslem-"Priester" Mohammed Faruk mir darüber erzählt hatte, wie Allah für ihn sorgt, seit er ihn Vorsorgen läßt.
Dann erinnerte ich mich an Castanedas Don Juan, der gesagt hat: "Du wirst erkennen, daß die Klarheit nur ein Punkt vor deinen Augen war". Auch bei Lao-tse fand ich es: "Der heilige Mensch verwirrt seinen Sinn um des Reiches willen", und noch klarer an einer anderen Stelle: "Ewig ein festes Richtmaß kennen, das nennt man mystische Tugend ... wie widersinnig den Wesen! Doch erst danach gelangt man zum großen Gleichströmen." Dann waren da die Sprüche des I Ching über meinen Weg hier und besonders über Scheich Ghafar, von dem es vor kurzem geheißen hatte: "Er greift ein, aber nicht als ein Räuber, sondern im Interesse einer ehelichen Verbindung und am Ende wirst du nichts mehr gegen ihn haben". Und was ich in der Biografie Vivekanandas gelesen hatte, zeigte mir, daß es bei einem indischen Guru nicht anders sein würde als hier.
Ich wollte die Sufis
ja kennenlernen; meine Enttäuschung konnte doch nichts anderes sein
als das Zeichen für meinen Kampf mit meinen Widerständen dagegen,
mich einfach der Führung Gottes anzuvertrauen. Erst nachdem ich meine
Unwichtigkeit akzeptiert haben würde,
konnte ich brauchbar sein. Die Brüder hier waren einfach lieb und
sie ließen sich nicht beirren, wenn
ich ungut war aus meiner Angst heraus, sie könnten etwas von mir wollen.
Sie wollten gar nichts, als daß ich
mich wohl fühlte bei ihnen - und das
konnte ich nur, wenn ich mich nicht mehr wehrte
gegen das, was sie glaubten. Ich mußte
es versuchen, einfach meine Kritik einzustellen
und zu sehen, was dadurch kommen würde.
Gleich am nächsten Tag kam eine Einladung zum Besuch der Gräber der Heiligen. Ich saß nach dem Mittagsgebet vor dem Schrein von Sydna el Hussein, da rückte einer an mich heran und fragte: "Enjoy Sayida Seynab together?" Ich hatte daran gedacht dort hinzugehen und hier hatten Arbeiter gerade begonnen die Lampen abzustauben, sodaß riesige Staubwolken in der Luft hingen und sich auf uns zubewegten. Ich nickte und der untersetzte ländliche Typ mit den schmierig anliegenden Haaren führte mich zum Bus. "I", sagte er und deutete auf sich, "country Kaffaschukra". Das klang genauso wie das Dorf, aus dem der Englischlehrer war, mit dem ich an meinem ersten Tag hier gesprochen hatte. Auch in ihrem ein wenig aufdringlichen Verhalten waren sich die beiden sehr ähnlich. Aber ich hatte ja beschlossen, mich nicht mehr zu sperren, sondern einfach zu sehen, was kommt, wenn ich die Dinge laufen ließ. Nach einer Weile bei Sayida Seynab fragte er "enjoy Sidi Ali?" Ich wußte bereits, daß Ali ein Sohn von Hussein war. Mit der deutschen Gruppe war ich bereits an seinem Grab gewesen, aber allein hätte ich es sicher nicht mehr gefunden. So gingen wir dorthin. Das Grab liegt in einer desolaten Friedhofsgegend, in der arme Menschen aufgegebene Gräber bewohnen, wie auch an anderen Teilen der riesigen Totenstadt. Und von Sidi Ali führte er mich zu Sayida Nafisa, einer sehr beliebten Heiligen aus der Familie des Propheten. An jedem Grab saßen wir etwa eine halbe Stunde und machten Aurad und ließen die Atmosphäre auf uns wirken.
Der Nachmittag war schon fortgeschritten, als wir bei Sayida Nafisa aus der Moschee kamen. Am Platz davor stand gerade ein Autobus und Mohammed drängte, ihn zu erreichen. "I must go country Kaffaschukra", erklärte er mir unterwegs. Ein anderes mal, so meinte er, würde er andere Gräber von Angehörigen der Familie des Propheten mit mir aufsuchen. Er wollte mich auch gleich mitnehmen in sein Dorf, aber an dem Abend war die Hochzeit von Said Hafiz, einem der wenigen Ägypter im Dar, die englisch sprachen, und die wollte ich nicht versäumen.
Der Gräberbesuch, schien mir, hatte mir gut getan. Ich fühlte mich großartig an dem Abend und auch bei der Hadra anschließend war ich voll da. Am folgenden Morgen stand ich früh auf zum Morgengebet bei Sydna el Hussein. Dabei erlebte ich einen der Auftritte unseres Magesup Schafei. Eine halb verwelkte Blume in der einen Hand und seinen Stab mit der anderen schwingend, vollführte er Sprünge vor dem Schrein wie ein Medizinmann in Trance und dabei stieß er arabische Worte in einer Weise hervor, die mir vorwurfsvoll oder erschrocken klangen, die mir aber später als "Ich liebe dich mein Herr Hussein" übersetzt wurden, als einer der Brüder im Dar Schafeis Verzückung komödiantisch nachspielte.
Ein paar Tage später war
ich wieder deprimiert. Ich hatte gedacht ich
wurde nie mehr vergessen, daß es nur darauf ankommt sich ganz
herzugeben und alle Energie einzusetzen. Aber
dann kommt etwas,
das mich ärgert und schon sind meine Vorsätze beim Teufel. Bei
der Hadra am Abend hatte ich wenig Lust und
so gut wie keine Energie und da bemerkte ich wieder diesen Energieschub,
den das Eintreffen von Scheich Ghafar bei
mir auslöste. Vielleicht war es auch sein Einfluß auf die anderen,
der dann auch auf mich übergriff. Den Übergang
selber bemerkte ich auch gar nicht, erst rückblickend,
wenn es mir auffiel wie unwillkürlich konzentriert ich war, konnte
ich den Zusammenhang herstellen.
Ich war nun schon sehr lange in Kairo und hatte noch kein einziges Buch über den Sufismus gelesen, weil es nirgendwo englischsprachige Literatur dazu gab, weder im Dar, noch in den Buchhandlungen. So versuchte ich es nun mit der theologischen Bibliothek der Azhar-Universität. Man brachte mich zu einem Wach-Offizier, der mir meinen Personalausweis abnahm und mir einen Führer zur Bibliothek mitgab. Dort saßen eine große, dicke Frau und ein Mann auf einem Sofa. Die Frau war offensichtlich der Boß. Sie sprach ausgezeichnet englisch. Ich fragte sie nach Büchern über die Sufis in englischer Sprache und sie deutete auf ein Regal von etwa vier Quadratmetern, in dem sämtliche englischen Bücher der Bibliothek standen. Völlig ungeordnet lagen da Philosophie-, Psychologie- und Ethikbücher, fast alle aus dem vorigen Jahrhundert, so zwischen Kant und Freud; von Büchern über den Islam keine Spur. Die Frau sagte, ich solle es mit den Buchhandlungen versuchen. Das hatte ich schon getan und so fragte ich sie, ob es möglich wäre einen Professor der theologischen Fakultät zu sprechen, denn die könnten mir sicher die richtigen Bücher sofort geben. Aber sie sagte: "Das sind alles Scheichs. Die sprechen kein Englisch." — Das also war die berühmte Azhar-Universität.
Im Dar herrschte Hochbetrieb in diesen Tagen, auch die ganze Nacht hindurch war da ein Kommen und Gehen, daß es so gut wie unmöglich war, Ruhe zu finden. Ich schlief jetzt auch in dem großen Versammlungsraum, weil das Zimmer, in dem ich vorher gewesen war, noch unerträglicher war, und manchmal mußte ich mich in die hinterste Ecke flüchten für ein wenig Schlaf. Daß jede Rückzugsmöglichkeit fehlte, deprimierte mich und jeden Abend eine Hadra war einfach zu viel für mich. Aber ich mußte zugeben, daß meine Entscheidung für den Islam zu Beginn der Geburtstagsfeierlichkeiten für Sydna el Hussein die Haltung der Leute mir gegenüber schlagartig verändert hatte, obwohl ich mit niemand darüber sprach.
Da war zum Beispiel ein Mann, der in den Arkaden des Hauses, in dem ich wohnte, sein Bett aufgestellt hatte. Ein paar mal jede Woche ging ich abends zu dem Balila-Stand - "Balila" ist gekochter Weizen in süßer Milch und anderen Zutaten - der dem Mann der Frau gehörte, die meine Wäsche wusch. Und dieser Stand stand gleich neben dem Bett des alten Mannes am Gehsteig. Der Alte hatte mich bis jetzt nie beachtet, aber jetzt plötzlich wollte er mich auf ein Balila einladen. Ein anderer Mann, der keine Beine mehr hatte und der auch in diesen Arkaden Rasseln und Trommeln herstellte, um sie an die Besucher der Hussein-Moschee zu verkaufen, lud mich zum Tee ein. Sogar auf der Straße redeten mich plötzlich Leute an und es war als würden sie sagen: Endlich bist du gekommen. Willkommen daheim. Nur ohne Arabisch konnte ich mit keinem dieser Leute reden und das war sehr anstrengend.
Das Anstrengendste dieser Zeit jedoch waren die schlaflosen Nächte. Es ging ungefähr so: In dem Zimmer, in dem ich vorher gewohnt hatte und in dem drei Betten standen, schliefen jetzt zehn Leute. Auch der große Versammlungsraum war voll und oft gab es keine Matratze mehr wie in der Nacht, deren Verlauf ich notiert habe: Ich legte einen Teppich zusammen und legte mich darauf. Aber, obwohl es schon nach zwei Uhr früh war, schien keiner an Schlaf zu denken. Nur ich war müde von vorangegangenen ähnlichen Nächten. Die anderen waren ausgeruht vom Land gekommen und feierten nun Wiedersehen mit ihren Freunden oder sie machten ihr Aurad. Jedenfalls waren alle Lichter an, die Leute liefen herum, aßen, redeten und erst nach drei Uhr wurde es still. Als ich niemand mehr sah, der es brauchte, stand ich auf und löschte das letzte Licht. Aber als ich mich wieder hinlegte, rannte ein Mann auf mich zu und legte sich in die schmale Lücke zwischen meinem Teppich und der nächsten Matratze rechts neben mir. Und kaum lag er, fing er auch schon an zu schnarchen, wie viele andere auch, ausgerechnet an meiner rechten Seite, nach der hin ich mich im Schlaf immer drehe und er war so nah, daß ich seinen Hauch spüren konnte. Ich drehte mich auf die andere Seite, aber nun begannen die Flöhe eine neue Arbeitsschicht, überall, in den Socken, unter der Hose, unterm Hemd, auf den Armen. Als um viertel nach vier zum Morgengebet geweckt wurde, hatte ich noch nicht geschlafen. Ich ärgerte mich und blieb stur liegen, bis mir klar war, daß es auch keinen Sinn hatte, liegenzubleiben. Ich mußte von meiner sturen Konzeption, daß die Nacht zum Schlafen da sei, abgehen und anfangen, es zu machen wie die anderen, zu schlafen, wenn Gelegenheit und Müdigkeit zusammentrafen. All die Grundsätze, die ich mir in den letzten Jahren erarbeitet hatte, traten nun als Forderungen von außen an mich heran, doch nun fiel es mir so ungeheuer schwer, sie zu erfüllen. Das Selbstmitleid und das Gefühl der Wichtigkeit meiner Person übertrafen immer wieder meine Einsichten. Ich trotzte etwa eine halbe Stunde lang, dann stand ich auf in der Erwartung, jetzt eine weitere halbe Stunde vor dem Waschraum warten zu müssen und böse auf die, die seelenruhig in "meinem" Zimmer schliefen und gar nicht daran dachten, zum Morgengebet aufzustehen. Ich kam aber überraschend schnell an die Reihe, und beim Wudu, der Waschung zum Gebet, machte ich einen zaghaften Versuch mich aus dieser Stimmung herauszureißen. Ich kam gerade rechtzeitig in die Moschee, aber hier ärgerte ich mich über die Länge der Gebete und dann über die Massen, die Sydna el Hussein schon um diese Zeit besuchen wollten, sodaß ich keinen Platz zum Hinsetzen fand. Ich ging also zurück ins Dar, um einen Kaffee für mich zu machen und die restlichen Sesamblocks zu essen, die ich vom Vortag noch in der Tasche hatte. Daß nun andere kamen, die auch etwas wollten, von dem, was ich hatte, daran hatte ich mich inzwischen schon gewöhnt. Als ich mich dann an den Schreibtisch setzte, um mir die Ereignisse dieser typischen Nacht aufzuschreiben, kam ein Mann herein, den ich schon ein paar mal gesehen hatte und sagte in sehr gutem Englisch: "Alle Menschen leben in der Finsternis der Mitternacht; nur wir, die wir unser Aurad machen, leben im Licht des Mittags. Bevor ich in diese Tarieqa kam, war ich nur ein Tier. Dann habe ich einen Reinigungsprozeß durchgemacht innen und außen." Dann öffnete er seinen Diplomatenkoffer und gab mir drei Gewürznelken, "wenn du Zahnweh hast, nehmen die den Schmerz", sagte er. "Und sonst geben sie einen frischen Geschmack", und damit verschwand er wieder.
Zum Mittagsgebet ging ich wieder zu Sydna el Hussein und dann geschah etwas Merkwürdiges. Ich saß vor dem Schrein. Es war sehr voll, denn umso näher der Höhepunkt des Festes rückte, umsomehr Leute kamen in die Stadt und zur Hussein Moschee, um dabei zu sein. Ich hatte meine Augen zu und machte Aurad. Da ergriff jemand meine Hand und wollte sie küssen. Ich war überrascht, weil ich den Mann noch nie zuvor gesehen hatte. Es war einer dieser unschuldig—schönen Leute vom Land. Ich war so verwirrt, daß ich hilfesuchend in die Runde schaute, bis jemand auf arabisch etwas zu mir sagte, von dem ich das Wort bahäbback verstand. Riddai, ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit dem Temperament eines jungen Pudels, der jetzt auch im Dar lebte, hatte es oft zu mir gesagt. Es bedeutet "ich liebe dich". Aber jetzt wußte ich noch weniger, wie ich reagieren sollte. Der Mann stand immer noch über mir und war gerade dabei wegzugehen. Mein Hirn arbeitete wie rasend. Ich hatte den Mann auch gern. Sein Gesicht war so klar, so ohne jeden Hintergedanken. Das ist vermutlich die arabische Art Freunde zu machen, dachte ich, indem man einfach zu denen, die man mag, hingeht und es ihnen sagt. Genauso hatte ich es mir immer gewünscht, nur tat ich es nicht. Er war bereits zwei Schritte weg, da endlich ließ mein Hirn meine Hand sich ihm nachstrecken. Er ergriff sie nocheinmal und verwandelte damit das erst etwas mühsame Lächeln auf meinem Gesicht in ein echtes. Dann setzte er sich wieder an seinen Platz. Und als er einige Minuten später ging, kam er nocheinmal her, um mir die Hand zu geben und er winkte, bevor er in der Masse verschwand. Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.
All das hatte ein anderer beobachtet. Möglicherweise war es der gleiche, der mir das Ganze zuvor auf arabisch erklärt hatte, und als ich von meinem Platz rücken mußte, weil links vor mir einer beten wollte, ergriff er die Gelegenheit, mich an seine Seite zu holen. Er war ebenso ein unschuldig-schöner Ägypter vom Land, vielleicht ein Freund des anderen? Wir haben nicht darüber gesprochen, sondern er fragte mich nun auf englisch, ob ich ein Muslim sei. Dann erklärte er mir, daß Gott diese Welt lenke wie ein Fahrer seinen Wagen. Nachdem wir eine Zeitlang gesprochen hatten, fragte er mich, ob ich ihn zu seinem Hotel begleiten wolle, denn ein Freund von ihm dort, der sehr gut englisch spreche, könnte mir viele Dinge über den Islam genau erklären. Ich hatte nichts dagegen. Endlich sah ich, daß nicht nur in der Tarieqa, sondern im Islam alle Brüder sind. Aber als wir den Schrein verließen und auf den Ausgang der Moschee zugingen, kam einer auf meinen Begleiter zu und begann, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aus dem ich heraushörte, daß er sagte, ich gehörte zu Scheich Ghafar. Aber weder mein neuer Freund noch ich ließen uns beirren. Vor der Moschee trafen wir dann einen anderen, Selim, aus dem Dar. Und der redete wieder auf meinen Begleiter ein und als er sah, daß das nichts half, fragte er mich, ob ich mit ihm kommen wollte seinen Onkel zu besuchen. Es war ganz offensichtlich, daß er mich vor einem von ihm vermuteten üblen Einfluß bewahren wollte und daß das mit seinem Onkel nur eine Ausrede war, um mich von dem anderen wegzubringen. Aber Selim weckte nun meine Neugierde erst recht. Ich mußte herausfinden, wovor er mich bewahren wollte.
Das Hotel war ganz in der Nähe in einer winzigen Gasse. Im ersten Zimmer, in das wir hineinschauten, war niemand, im zweiten wurden wir gleich zum Essen eingeladen. Schafskäse und Halwa. Dann ein Stockwerk höher, lagen Teppiche auf dem Gang. Hadschiem, der mich hergebracht hatte, deutete mir, mich zu setzen, während er mit jemand redete. "Mr. Ali schläft", sagte er dann. "Er hat bis zum Morgengebet Fragen beantwortet, aber er wird bald auf sein." Man servierte mir Tee und einige Leute setzten sich zu uns. Hadschiem erklärte mir, daß im Islam alle Brüder seien, gleich welcher Tarieqa sie angehörten. "Mr. Ali ist aus der Familie von Sydna el Hussein", sagte er, "er kann dir alles sagen, was du wissen willst." Endlich kam der Scheich aus seinem Zimmer, um sich zu waschen. Vor ihm gingen Leute mit Handtuch und Seife. Hadschiem ging ihm nach, um ihm von mir zu berichten.
Da blieb der Scheich stehen, drehte sich um und sagte zu mir in gutem Englisch: "Du mußt arabisch lernen. Eine Übersetzung des Koran ist nicht möglich". Dann ging er weiter. Es überraschte mich, wie jung er war. Ich schätzte ihn auf etwa vierzig. Er brauchte ewig im Bad. Einer kam dann mit einem Spiegel gelaufen und als er fertig war, ging er wieder in sein Zimmer. Inzwischen wurden weitere Teppiche ausgelegt für das Nachmittagsgebet, aber Scheich Ali blieb in seinem Zimmer und jeder betete für sich allein.
Kurz vor vier wollte ich gehen, denn ich war mit einem der Muslim-Brothers verabredet, die wir in der Vorwoche besucht hatten. Aber man bat mich, noch zu warten und ich blieb. Es gab nun Essen: Kartoffeln in einer Soße, ein wenig Hühnerfleisch, Rettich und Salat. Scheich Ali blieb in seinem Zimmer. Nach dem Essen wollte ich wieder gehen, aber weil ich nicht mehr genau wußte, in welche Richtung ich gehen mußte, zeigte es mir einer vom Dach aus. Da oben war ein Mann, der mit seiner Frau und zwei Kindern ein Rohbauzimmer ohne Fenster bewohnte und der lud uns zu einem Zitronengrastee ein. Das Gras sah aus wie Weizenstroh, aber der Tee schmeckte herrlich.
Als ich schließlich ging, begleitete Hadschiem mich zum Dar und weil hier niemand auf mich wartete, gingen wir noch zusammen zum Abendgebet zu Sydna el Hussein. Dann verabschiedete ich mich von Hadschiem, der mich nun nur ungern wieder verließ.
Nach Mitternacht, als die Husseinmoschee
schon geschlossen war, machten einige Leute unten auf dem Platz vor dem
Seiteneingang der Moschee, direkt unter unserem Fenster eine Hadra.
Es waren die Leute von Scheich Ali. Ich erfuhr nun, daß Scheich Ali
zur Burhamia-Tarieqa
gehörte, der Vorgänger-Tarieqa der Ahmedias
von Scheich Mahmud Abu Bakr, deshalb also
die überraschende Abwehr gegen meinen Besuch bei diesen Leuten.
Langsam begann sich für mich die Ordnung hinter dem Chaos an der Oberfläche hier abzuzeichnen. Ridda, das enfant terrible der Tarieqa, half mir dabei, es zu sehen. Er war eine echte Verkörperung des Musters. Er zitterte vor Energie, die er oft nur noch in Quietsch-, Grunz- oder Knurr-Lauten abzulassen wußte, aber er war völlig desorganisiert, wie die meisten hier. Keine Minute schien er sich um irgendetwas zu sorgen, er schien auf Gott zu vertrauen, ohne daran zu denken, ja vielleicht sogar ohne es zu wissen. Aber er betete, liebte den Propheten Mohammed und seine Familie und er tat, was ihm aufgetragen wurde. Mitten drin allerdings, vergaß er es auch wieder, wenn ihn etwas anderes mehr interessierte. Er war immer dort, wo etwas los war, wo ES geschah für ihn. Und so war es allgemein. Alles, so schien mir, lief hier wie in einer Herde von Tieren: Jeder tat, was ihm gerade einfiel, aber die Führer herrschten absolut, das wußten alle. Und alle akzeptierten diese gottgegebene Ordnung der natürlichen Kraft, in der es auch für die Stärksten immer noch etwas noch Stärkeres gibt, das ihnen verbietet zu Tyrannen zu werden. Es war ganz klar, daß Ungehorsam dieser Ordnung der Kraft gegenüber Wahnsinn war und nur Unheil bringen konnte. Gott akzeptieren hieß: sich selber akzeptieren, wie man war, stark oder schwach, rot oder braun, heiß oder kalt, weil jeder Teil notwendig ist für Ganze und weil das Ganze in jedem Teil ist. Und weil sie das Ganze sahen, konnten sie ihre Rolle perfekt spielen ohne Hintergedanken, ohne Rücksichten. Das Ganze war Allah.
Der Isa, den ich in Istanbul getroffen hatte, hatte recht: Der Islam beruhte auf der Tatsache, daß die Menschen durch ihr Denken ihre Instinktsteuerung verloren haben und das Akzeptieren dieser einfachen äußeren Ordnung der Religion brachte sie zurück.
Alles im Islam
und besonders in der Tarieqa
zielte darauf ab, das Festhalten am Eigenen zu brechen und die Menschen
frei zu machen für die Hingabe an das Ganze, an Allah. Unentbehrlich
dazu war, daß jeder mit allem Nachdruck sagte, was er wollte, ohne
beleidigt zu sein, wenn die eigene Kraft nicht ausreichte,
es durchzusetzen. Die
absurden Dinge, die man zu glauben hatte,
dienten dazu, die Rationalisierungen abzustellen und die Möglichkeiten
nicht durch die Erfahrungen der Vergangenheit einzuschränken. Das
Aurad sollte den Gedankenfluß unterbrechen,
damit sich im entscheidenden Augenblick die Notwendigkeit durchsetzen
konnte, statt einer hängengebliebenen Erinnerung. Und die Ordnung
der Religion selber war aus dieser Gedankenleere heraus geboren, in der
die Notwendigkeit für das Ganze hervorkommen konnte. Wer war daher
der Ursprung des
Koran und des Islam? Allah!
Genau am Höhepunkt des Mulids zum Geburtstag von Sydna el Hussein, wo alles um die Moschee herum und im Dar wimmelte von Menschen und wo Bad und Klo des Dar einem Hammel und dann zweien als Stall diente, bevor sie geschlachtet wurden, sagte man uns, den Bewohnern des Zimmers gegenüber, wir müßten das Zimmer räumen, weil es für den bevorstehenden Besuch von Scheich Mahmud Abu Bakr umgebaut werden sollte. Als man es mir sagte, war niemand da, der es mir auf englisch hätte erklären können, deshalb wartete ich erst einmal ab. So ungemütlich es hier inzwischen geworden war, ich wollte nicht in das andere Haus der Tarieqa in Ataba ziehen, denn dort war es inzwischen sicher genauso voll wie hier und ich wollte lieber im Zentrum sein. Außerdem kannte ich die Leute dort nicht und hätte mich noch mehr als ein Außenseiter gefühlt als hier. Auch Schäsuli und Mistien waren betroffen, aber die beiden waren in Alexandria, daher wollte ich wenigstens mit dem Umzug warten, bis sie zurückkehrten. Zum Glück hatte ich in den letzten Wochen gelernt, Ärger zu vermeiden, indem ich die Dinge nicht persönlich nahm. Als Schäsuli und Mistien aus Alexandria kamen, hatten sie beschlossen wie Schäms in Segasieq Erziehungswissenschaften zu studieren. Als sie von dem Räumungsbefehl hörten, packten sie sofort ihre Sachen und zogen nach Ataba. Ich hatte keine Lust dazu und sah auch noch keine Notwendigkeit, obwohl das Dar jetzt schon so voll war, daß man auf Schritt und Tritt über Leute stolperte. Das ganze Haus war in eine Großküche umgewandelt worden für den Mulid. Zwei Büffel und drei Schafe wurden geschlachtet und es hieß, der große Versammlungsraum würde nicht zum Schlafen zur Verfügung stehen, weil man die ganze Nacht über Essen verteilen wollte an die Besucher des Mulid. Aber das erwies sich als unmöglich, wegen der vielen Leute ohne Quartier. Außerdem hatte es am Abend geregnet und die ganze Gegend hatte sich in eine Schlammpfütze verwandelt.
Trotzdem schliefen unzählige Leute auf den Straßen. Auf den Plätzen und in den Gassen um die Hussein Moschee waren riesige Zelte aufgestellt worden für die einzelnen Tarieqas, ähnlich wie in Khartoum zum Mulid des Propheten Mohammed, und aller freier Raum dazwischen war ausgefüllt von campierenden Besuchern vom Land. Um die Moschee herum waren jetzt so viele Menschen, daß in den freigebliebenen Gehwegen reißende Menschen-Strömungen entstanden. Abdullah, der Verantwortliche der Ahmedia Tarieqa in New York, der inzwischen gekommen war, und im Scheich Apartment wohnte, verlor in dem Gewühl seine Schuhe. Jemand war ihm hinten draufgestiegen und er war herausgeschlüpft. Und natürlich hatte er keine Chance, sich zu bücken und den Schuh aufzuheben. Die Strömung hatte ihn längst mit sich fortgerissen.
Und so ging das nun mehr als zwanzig Stunden am Tag. Schon zum Morgengebet um halb fünf war die riesige Moschee bis auf den letzten Platz gefüllt und noch vor der Moschee breitete man Matten und Zeitungen aus und Zehntausende beugten sich im gleichen Takt vor ihrem Gott. Und die, die keinen Schlafplatz finden konnten in dem Getümmel, blieben die Nacht über wach und beteten.
Ich war in der Rastlosigkeit dieses Chaos besonders stark hin- und hergerissen in meiner Einstellung dem Islam gegenüber. Die alte und die neue Welt standen nun im stärksten Kontrast und ich wurde wieder an Lao-tse erinnert, der sagt: "Halten und füllen zugleich, laß das sein". Wenn die alte Welt nicht aufhörte, konnte die neue nicht entstehen. Das bedeutete auch Castanedas "die Welt anhalten". Ich wußte es und in meiner Offenheit erfuhr ich auch große Kraft, aber dann wurde der äußere Druck zu stark und ich war wieder in Zweifeln. Ich war froh, daß mit Abdullah jetzt wieder ein Mensch aus dem Westen hier war, mit dem ich reden konnte.
"Ich mache eine Anstrengung ohne Ergebnis, dann noch eine und noch eine", sagte ich ihm, "dann endlich kommt das Ergebnis, aber gleich darauf kommt ein Schlag und ich bin wieder unten, wo ich war."
"Mir geht es genauso", sagte Abdullah, "Aber ich bleibe nicht unten, denn ich habe mir ein Instrumentarium gesammelt, mit dem ich mich wieder aufrichten kann. Wenn du auf eine Reise gehst, mußt du dich ausrüsten. Die Leute hier hören Scheich Ghafar seit zwanzig Jahren und daher wissen sie, was sie zu tun haben. Und so mußt du es auch machen. Du mußt die Hadithen studieren. Dort findest du alles, was du brauchst. Ich bin jetzt zehn Jahre in der Tarieqa und am Anfang ist es mir genauso gegangen wie dir."
"Mein Problem ist, daß ich das, was ich hier mache, nicht für mich allein mache. Ich könnte alle meine Fragen einstellen und einfach alles akzeptieren, aber dann würde ich nicht imstande sein, die Fragen meiner Freunde zu beantworten."
"Wenn du einfach akzeptierst, werden sich diese Fragen alle aufklären, denn dann wird das, was du sagst, nicht mehr aus deinem Gedächtnis kommen, sondern direkt von Gott. Der Weg über die Fragen ist viel schwieriger, als der Weg ohne Fragen."
In der letzten Nacht des Mulid waren so viele Leute überall, daß ich beschloß, mich gar nicht schlafen zu legen. Auch Abdel Nasr, der Bruder von Scheich Ghafar, war wieder da. Er wohnte seit einiger Zeit in Alexandria, weil er dort an einer Filiale der Universität von Beirut studierte. Ich freute mich sehr, ihn wiederzusehen und wir verbrachten die Zeit mit Erinnerungen. Er sang den Song für mich, den Schäsuli erfunden hatte, und ich neckte ihn mit seinen Sprüchen "I am nervous from nervous itself" und "Everything is o. k. and if it is not o.k., it will have to be o.k.." Natürlich wurde auch die Geschichte wieder erzählt wie er damals hungrig zu Hause gesessen hatte und wie Leute gekommen waren, die sich mit Essen in ein Zimmer geschlichen hätten, um es dort allein essen zu können. Sie hatten Abdel Nasr nicht bemerkt und er tat, als hätte er sie nicht bemerkt und ging wie zufällig in das Zimmer, in das sie sich zurückgezogen hatten. Dort blickte er ganz überrascht auf das Mahl und rief "ah näfha!", was so viel heißt wie "ein Geschenk Gottes" und so brauchte er nicht zu fragen und niemand brauchte ihn einzuladen, es war klar, daß das Essen auch ihm gehörte.
Wir saßen die ganze Nacht da, bis es Zeit war, zum Morgengebet zu gehen. Abdel Nasr nahm mich an der Hand und führte mich vor das Grab von Sydna el Hussein. Wir waren die Letzten, die eingelassen wurden, obwohl die Grabkammer schon überfüllt war. Und wir kamen genau in der Mitte vor dem Schrein zu sitzen.
"Siehst du, Sydna el Hussein wollte, daß wir an seinem Geburtstag zu ihm kommen, deshalb sind wir noch eingelassen worden", sagte Abdel Nasr. Und ich hatte genau denselben Eindruck gehabt.
Nach dem Morgengebet legten wir uns
kurz schlafen, aber alles, was wir zum Zudecken
fanden, war eine Galabia, die für uns
beide reichen mußte. Aber die vielen Leute in dem großen Raum
waren ohnehin wie eine Zentralheizung.
Am Vormittag ging ich dann in die Cafeteria, um Tee zu trinken. Eine Gruppe von Studenten aus Mansur lud mich ein, mich zu ihnen zu setzen. Kurz darauf kam ein anderer, den sie kannten und er setzte sich auch zu uns. Mir fiel auf, daß er sehr gut roch. Er schwebte in einer Wolke Sandalholz. Seine Galabia verriet, daß er vom Land war. Die anderen sagten mir, er sei ein Wali, ein Mann Gottes, ein Prophet. Er hieß Ibrahim. Er war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und Diener am Grab des Ibrahim von Desouk. Zuerst war ich mißtrauisch, als ich "Wali" hörte, aber bald sah ich, mit welcher Ehrfurcht die anderen mit ihm redeten und wie sicher und ungezwungen er sich verhielt. Er bestellte gleich für alle ein Getränk. Dann sagte er zu den anderen, ich sei o. k., er könne es an meinen Augen sehen und die anderen erklärten mir, er wisse, was er sage, denn er könne jedem ins Herz schauen. Ibrahim sagte, er habe mich damals in Desouk gesehen. Er habe mir zugewunken, aber ich hätte nicht reagiert. Da begann am Nachbartisch ein Streit, der damit endete, daß ein Mann am Tisch einen anderen, der davorstand angriff und mit eigenen Händen aus dem Lokal beförderte und nachher aufgeregt allen Leuten erzählte, warum er das getan hatte. Ibrahim lachte nur darüber. Aber als sich wieder alles beruhigt hatte, rief er den Mann an unseren Tisch, drückte ihm eine Flasche Cola in die Hand und unterhielt sich mit ihm. Als der Mann das Cola getrunken hatte, begann Ibrahim zu fragen, was denn da vorgefallen sei und das Gespräch endete damit, daß er dem Mann einen Zippha, also einen Rosenkranz, in die Hand drückte und ihm auftrug hundert Astaghfirullah zu beten. Der Mann, der wesentlich älter war und vorher sehr stark gewirkt hatte, schien froh, so billig davongekommen zu sein. Allerdings mußte er dann auch noch einem Bettler für unsere ganze Runde Geld geben.
Ein paar Minuten später war ich
es dann, der ins Schwitzen kam unter den aufmerksamen
Augen des Wali. Eine Bettlerin kam und jeder
gab ihr etwas, der vor mir sogar zwanzig
Piaster. Ich gab gewöhnlich fünf oder zehn. Aber ich fand in
meiner Tasche nur einen 25-Piasterschein.
Ich suchte nach etwas Kleinerem, fand aber nichts und so gab ich ihr die
fünfundzwanzig. Ibrahim hatte mich genau beobachtet, und er sagte
der Bettlerin, sie solle mir etwas zurückgeben. Sie
gab mir zehn Piaster und Ibrahim fragte mich
"qois?", gut? Ich sagte ja, aber ich fühlte
mich ungut, denn bei Bettlern war ich geiziger als die Ägypter und
es war offensichtlich, daß Ibrahim meine
Gefühle genau kannte.
Am Nachmittag ging ich wieder zu Sayida Seynab, um dort mein Aurad zu machen. Nach dem Abendgebet zeigte mir ein Mann einen versteckten Platz hinter dem Schrein, an dem ich noch eine Weile blieb. Dann führte der Mann mich zu Sayida Fatiha Anaboya zum Nachtgebet. Von dort aus wollte ich den kürzesten Weg zurückgehen ins Dar, denn jetzt gab es den Abschluß der Geburtstagsfeierlichkeiten für Sydna el Hussein. Meinem Begleiter war die Straße, die ich nahm, sehr unangenehm und das war mit ein Grund, warum ich sie nahm, denn ich wollte ihn los werden, was mir allerdings nicht gelang. Diese Straße, die an die Rückseite der Azhar-Moschee führt, ist nämlich die Straße der Haschischhändler. Wie zu erwarten, riefen viele gleich ihr "Habli babli", als sie mich sahen, was meinen Begleiter sehr nervös machte. Er deutete auf mich und sagte wie eine Beschwörungsformel "Sayida Fatiha Anaboya!" und gleichzeitig beschleunigte er seine Schritte, um den Sündenpfuhl hinter sich zu lassen.
Auf der Brücke vor der Azhar Moschee gab es den ersten Rückstau wegen der vielen Menschen auf dem Platz vor der Hussein Moschee. Ein Polizist stand auf dem Geländer der Brücke und schlug mit seinem Gürtel nach den Leuten, die hier stehenblieben, um sich das bunte Schauspiel da unten anzusehen. Es war ein echt orientalisches Spektakel mit all den Lichtern, den Zelten der Tarieqas, den Ständen der Händler und den bunten Strömen von wahrscheinlich mehr als hunderttausend Menschen. Es brauchte alle Kraft, sich da durchzukämpfen, schon allein um in der richtigen Strömung zu bleiben, denn sobald man in die Gegenströmung geriet, war es schwer sich auf den Füßen zu halten. Einige junge Leute machten sich einen Spaß daraus einfach alle über den Haufen zu rennen. Ich war froh, als wir endlich zum Dar kamen, wo man inzwischen einen Türhüter aufgestellt hatte, um das Haus vor der totalen Überflutung zu schützen.
Es war die letzte Nacht und der Höhepunkt des Mulids. Um vier Uhr früh war die Ausspeisung im Dar noch in vollem Gang. Es ekelte mich davor, zu sehen, wie gierig diese Ägypter nach dem Fleisch waren und umso fetter sie waren, umso gieriger. Die Hauptarbeit an der Ausspeisung hatte die Frau, die für die Tarieqa die Wäsche wäscht. Sie hatte in den letzten Tagen fast nichts geschlafen, aber sie arbeitete unaufhörlich. Ein Büffel, zwei Kälber und fünf Schafe waren geschlachtet worden und sie hatte alles verkocht und tausende von Menschen gefüttert. Das erinnerte mich wieder an Lao-tse: "Der Heilige Mensch, er füllt ihren Bauch und stärkt ihre Knochen."
Am nächsten Abend standen immer noch zwei der großen Zelte und es gab nocheinmal eine Hadra dort und viele Leute um die Moschee herum machten nicht den Eindruck, als wollten sie bald abreisen. So primitiv sie hier lebten, es machte ihnen offenbar großen Spaß. Sie lebten, aßen, schliefen einfach auf dem Boden um die Moschee herum und in den angrenzenden Straßen, auf Kartons oder auf Strohmatten. Sie hatten ihre Petroleum- oder Gaskocher und Kochgeschirr dabei und ständig wurde überall gekocht und gegessen, die Leute besuchten sich gegenseitig und es war tatsächlich als wären alle diese Leute eine große Familie.
Als ich an dem Abend mit Abdel Nasr einige Fotos vom Dach des Hauses aus machte, in dem das Dar der Tarieqa ist, sah ich, daß auch da oben ein großes Zelt stand. Eine Hadra war da gerade im Gang mit Flöten und Gesang über Verstärker. Abdel Nasr erzählte mir, er habe mit Ibrahim, dem Wali, die Gräber der Familie des Propheten hier besucht. "Ibrahim ist der liebste Mensch", sagte Abdel Nasr. "Wenn du ihn wieder triffst, mußt du ihm sagen, daß er für dich beten soll, denn seine Gebete zählen viel. Seit seinem siebten Lebensjahr ist er Diener am Grab von Ibrahim Desouki. Nur er betritt den Schrein, um sauberzumachen. Sein ganzes Leben hat er nichts getan, was den Geboten des Islam widerspricht. Immer war er in der Moschee bei Arbeit und Gebet. Und du spürst es, wenn du mit ihm bist, daß er ein Heiliger ist."
Ich mochte Ibrahim auch und wenn ich
arabisch gekonnt hätte, wäre ich gern nach Desouk gefahren, um
eine Zeitlang in seiner Nähe zu leben.
Im Dar wurde mir nun täglich gesagt ich müßte umziehen, aber solange der Umbau nicht begann, sah ich keine Notwendigkeit dazu. Ich war froh, daß ich direkt vor dem Heiligtum des Sydna el Hussein wohnte, denn ich ging nun gern dort hin zum Morgengebet und ich ging auch gern die anderen Heiligen aus der Familie des Hussein besuchen. Diese Schreine hatten eine eigenartige Atmosphäre, die mich in eine gute Stimmung versetzte.
Wenige Tage nach dem Mulid war ich zum Abendgebet bei Sayida Nafisa und anschließend überlegte ich, ob ich mit dem Bus nach Hause fahren sollte oder zu Fuß gehen. Während ich an der Haltestelle stand und überlegte, kamen ein Mann und eine Frau daher, offensichtlich Leute aus dem Westen. Sie sahen mich an und ich schaute sie an und als ich schon ansetzte, "hallo!" zu sagen, sagte der Mann "Salam aleikum".
"Aleikum salam", sagte ich und schaute sie fragend an. "Wart ihr in der Moschee da?" fragte ich; mir fiel im Moment der Name nicht mehr ein.
"Wir haben dich beten gesehen", sagte die Frau. Ich glaubte immer noch, die beiden wären Touristen und fürchtete schon ich müßte mich rechtfertigen dafür, daß ich in einer Moschee betete.
"Wir sind auch dort gewesen zum Maghrib und jetzt gehen wir jemand besuchen in diesem Haus hier", sagte der Mann und deutete auf das Gebäude neben der Bushaltestelle.
"Ihr seid Moslems?" fragte ich.
"Ja."
"Woher kommt ihr?"
"Aus Frankreich, und du?"
"Aus Österreich. Wie lange seid ihr schon in Ägypten?"
"Drei Jahre."
"Ich vier Monate. Ihr müßt ja schon gut arabisch sprechen."
"Ja, wir lesen den Koran auf arabisch", sagte er. "Und ich lese und schreibe arabisch, aber in der Konversation muß Ibrahim manchmal für mich übersetzen. Übrigens ich bin Mariam."
"Ich heiße Abdel Salam. Wart ihr schon die ganze Zeit Moslems, seit ihr hier seid?"
"Ja. Wir sind vorher viel gereist. Wir haben den Islam schon in Indien kennengelernt und dann sind wir hierhergekommen."
"Ich habe immer noch Schwierigkeiten mit dem Islam. Ich bin zwar in einer Tarieqa, aber bis jetzt bleiben viele Fragen offen."
"Wir sind auch durch eine Tarieqa zum Islam gekommen, aber wir haben sie verlassen. Welcher Tarieqa gehörst du an?"
"Den Ahmedis,"
"Das war auch unsere Tarieqa. Wir haben Scheich Ghafar oft besucht und seinen Lektionen zugehört. Scheich Ghafar ist sehr clever, aber wir waren auch immer unbefriedigt, bis wir unseren Scheich kennengelernt haben, den wir jetzt besuchen möchten", sagte Ibrahim.
"Scheich Ghafar ist sehr offen, weil er die westliche Welt gut kennt und er will die Tarieqa öffnen für den Westen und für die höheren Gesellschaftsschichten. Deshalb fordert er die Frauen auf, sich modern zu kleiden", sagte Mariam "und zur Hadra zu gehen wie zur Disco. Aber ich halte das nicht für gut, weil die meisten ägyptischen Männer zu sehr an ihren Traditionen hängen, um das zu akzeptieren."
"Ja, aber den höheren Klassen ist es wieder unmöglich, sich traditionell zu kleiden", sagte Ibrahim. "Und durch die Ahmedia gibt es auch eine Tarieqa für sie." Dann erzählte er, sie hätten zuerst eine Weile im Dar bei Sydna el Hussein gewohnt, wie ich jetzt, dann hätte Scheich Ghafar ihnen eine Wohnung in Heliopolis gegeben. Aber Scheich Ghafar hätte es nicht gern gesehen, daß sie nicht arbeiteten. Schließlich seien sie dann ausgezogen und kurz darauf hätten sie ihren jetzigen Scheich kennengelernt.
"Warum habt ihr denn die Tarieqa verlassen?" fragte ich.
"Weil wir die ganze Zeit unzufrieden waren. Am Anfang dachten wir, es war nur wegen unserer Unwissenheit und wir müßten Geduld haben, um all die Dinge zu lernen, die wir wissen wollten. Es fehlte uns aber die Führung. Wir waren allein gelassen mit unserem Aurat. Erst nachdem wir die Tarieqa verlassen haben, haben wir entdeckt, daß andere außerhalb der Tarieqa ein viel höheres Niveau haben."
Was er sagte, war genau meine eigene Erfahrung. Auch ich fühlte mich allein gelassen und vermißte die persönliche Führung. Ich mußte allerdings gestehen, daß ich bisher die Muraqaba nur selten gemacht hatte und auch das Auradbuch las ich nicht, denn ich schaffte es einfach zeitlich nicht.
"Ich habe genau das gleiche Problem mit der Tarieqa", sagte ich. "Und das Auradbuch, ich kann es nicht lesen, solange ich nicht arabisch spreche."
"Wir meinen, es ist besser den Koran zu lesen wie das Aurad. Mit all dem Aurad kommt man nicht mehr zum Koran."
"Was ist denn euer Scheich für ein Mann?"
"Er ist ein sehr sonderbarer Mann", sagte Mariam. "Meistens spricht er nicht. Was er gibt, gibt er auf eine andere Weise. Sehr seltsam. Manchmal läßt er uns nicht ein."
"Wie jetzt, wir wissen nicht, ob er uns empfangen wird."
"Am Anfang hat er uns auf der Straße warten lassen und uns über ein Monat lang nicht hineingelassen. Jeden Tag sind wir hergekommen, aber er hat uns nicht eingelassen. Sehr seltsam! Entschuldige, mein Englisch ist schlecht, ich habe es lange nicht gebraucht", sagte Mariam. Aber vom ersten Tag an, als wir ihn sahen, haben wir es gewußt."
"Ich wußte, ich hatte ihn schon in Frankreich gesehen", sagte Ibrahim. "Und vom ersten Moment an habe ich die besondere Bindung gespürt, die es zwischen uns gibt."
"Wie habt ihr ihn kennengelernt?"
"Du weißt, wenn du an diesen heiligen Orten herumgehst, triffst du viele Leute. Einige von ihnen sind wirklich sonderbar, die Magesup; sie leben auf der Straße und wir haben auch auf der Straße gelebt, über einen Monat lang, bevor wir unseren Scheich getroffen haben. Du weißt diese Magesup sind nicht verantwortlich für das, was sie tun. Sie leben in einer Trance und tun sonderbare Dinge. Gerade jetzt, während des Mulid von Sydna el Hussein ist einer gestorben, den wir kennengelernt haben. Er war hundertzwanzig Jahre alt, als er starb. Er hat auf einem dieser langen Stühle gelebt, die es hier gibt, vollkommen nackt und hat sich nicht vom Platz bewegt, vierzig Jahre lang; genau wie du es hörst von den Leuten in Indien."
"Nach Indien wollte ich eigentlich gehen, aber statt dessen bin ich hierher gekommen."
"Wie bist du denn Moslem geworden?"
"Nachdem ich viele Bücher gelesen hatte, hatte ich mir alles ausgerechnet und ich dachte, daß ich in Indien eher wie sonstwo finden konnte, was ich suchte. Ich hatte Castaneda gelesen und hielt seine Beschreibung der Struktur der Wirklichkeit für die genaueste. Und die letzten Jahre habe ich an einem Buch geschrieben und damit meine eigenen Gedanken zu dem Thema geordnet. Ich dachte ich könnte Castaneda nicht einfach nachahmen und nach Mexico gehen. Ich mußte meinen eigenen Weg finden. Und im Hinduismus habe ich dann eine ähnlich rationale Analyse des Übernatürlichen gefunden wie bei Castaneda. Aber natürlich mußte ich jetzt das Ganze in der Praxis sehen. Und genau als ich nach Indien abreisen wollte, habe ich diesen Sufi-Scheich kennengelernt und da ich wußte, daß die Sufis dieses Wissen auch haben wie die Hindus, hielt ich das für ein Zeichen, diesem Weg zu folgen.
Ich habe zuerst den Sommer mit diesem Scheich in Deutschland verbracht, dann aber ist er gestorben und ich bin hierher gekommen. Moslem bin ich erst hier geworden. Mit dem deutschen Scheich konnte ich mich dazu nicht entschließen. Ich dachte ich müßte das Ganze in der Umgebung sehen, von der es kommt. Und hier ist mir dann klar geworden, daß die Fragen, die ich hatte, nur beantwortet werden würden, wenn ich drinnen war, nicht außerhalb."
"Das stimmt, es war eine gute Entscheidung."
"Aber, wie gesagt, ich habe immer noch Schwierigkeiten mit den Dingen, zum Beispiel, daß Mohammed der letzte Prophet sein soll."
"Vielleicht sollten wir uns da drüben setzen", sagte Ibrahim. Es war inzwischen Nacht geworden. An dem Platz, auf den Ibrahim zeigte, standen eine Menge Stühle aufgestapelt und wir setzen uns. "Das braucht Zeit", sagte Ibrahim nun. "Liest du eigentlich irgendwas?"
"Lange habe ich vergeblich gesucht, aber jetzt ist ein Amerikaner im Dar und der hat mir ein Buch von Muhyiddin Ihn Arabi geborgt, 'The Wisdom Of The Prophets' heißt es; das lese ich gerade."
"Und ich bin gerade dabei, ein anderes Buch von ihm zu übersetzen. Wenn du das verstanden hast, was er sagt, mußt du darüber meditieren, denn er konnte nicht alles niederschreiben. Erst in der Meditation wird dir daher völlig klar werden, was er sagen wollte, übrigens einige heutige Heilige gehen über Ibn Arabi hinaus; die Erkenntnis schreitet im Lauf der Geschichte fort, auch im Bereich der Mystik."
Wir sprachen dann über Castaneda und die Drogenerlebnisse, die für viele aus dem Westen notwendig sind, bevor sie etwas von dieser anderen Welt begreifen können, und Ibrahim sagte, daß es auch hier Drogen gäbe, die Visionen hervorriefen und daß manche Scheichs sie für diese Zwecke einsetzten.
Wir saßen noch nicht lange da, da sah Ibrahim Freunde von ihm und er rief ihnen. Ein ägyptisches Paar kam auf uns zu, um die dreißig, wie wir alle. Die beiden Paare begrüßten sich auf arabisch, dann stellten wir uns vor. Als ich meinen Namen sagte, begann die übliche Diskussion über die Namensänderung. Jedesmal, wenn ich jemand meinen Namen sagte, wurde ich gefragt, warum ich keinen islamischen Namen hätte und dann kamen immer gleich Vorschläge: Mohammed, Mustafa, Omar, Ibrahim etc, etc. Jedesmal waren es andere und ich konnte mich nicht entscheiden.
"Aber der Name ist wichtig", übersetzte Ibrahim, was der Ägypter gesagt hatte. "Er überträgt eine Kraft". Dann nannte er zwei arabische Namen, die ich noch nie zuvor gehört hatte und sagte, der Prophet habe diese beiden Namen vorgeschlagen für Fälle wie diesen. "Natürlich ist es nicht Pflicht", sagte er, "aber es ist ratsam, den Namen zu ändern."
"Ich denke, der Name wird sich wie alles andere von selber einstellen", sagte ich. "So lange ich mich nicht entscheiden kann, bleibe ich einfach bei meinem alten oder bei seiner Übersetzung und eines Tages werde ich den neuen wissen."
"Ja, das ist gut", sagte Mariam.
Dann, nach einem langen Gespräch in arabisch, sagte mir Ibrahim, seine Freunde hätte gerade versucht, ihren Scheich zu besuchen, aber er sei nicht zu sprechen und so wäre es besser, jemand anderen zu besuchen. Ibrahim führte uns zu seinem Auto, aber bevor wir losfuhren, kam ein Mann, der in der Nähe auf der Straße gesessen war, und begann, mit uns zu reden. Erst wollte er mir etwas geben und er sagte, ich solle mit ihm kommen, aber die anderen sagten ihm, es wäre besser ein anderes Mal und so begnügte er sich, uns allen Zigaretten zu geben. Dann fuhren wir zum Parkplatz vor der Hussein Moschee. Sie wollten in der Cafeteria etwas essen.
"Es ist ein Glück für dich, daß du direkt bei Sydna el Hussein wohnst", sagte Mariam, als wir ausstiegen.
"Ja, ich möchte auch gar nicht weg von hier", sagte ich.
"Ich muß schnell nach oben, weil ich mit jemand für acht Uhr etwas ausgemacht habe. Ich bin gleich wieder da."
Als ich wieder hinunterkam, hatten die anderen keinen Platz gefunden und wir gingen gleich weiter. Wir gingen den gleichen Weg, den mich vor einigen Tagen Hadschiem geführt hatte, und als wir vor dem Hotel Sams Sams standen, fragte ich: "Heißt der Mann, den wir jetzt besuchen, zufällig Ali?"
"Ja, Ali Hagg, hast du ihn bereits kennengelernt?"
"Ja, ungefähr vor einer Woche."
"Wir haben Scheich Ali getroffen, kurz bevor wir die Tarieqa verlassen haben", sagte Ibrahim "und ungefähr einen Monat später haben wir unseren Scheich getroffen."
Wir wurden in das Zimmer neben das des Scheichs gebeten, dann kamen die Leute mit Zigaretten. In wenigen Minuten hatte jeder von uns zehn Zigaretten da liegen und ich kam nun um das Rauchen nicht mehr herum.
Nach etwa einer Stunde kam Scheich Ali, aber es war keine Zeit für Fragen und Gespräche für uns Ausländer. Der junge Bruder des Scheichs kam und schimpfte über irgendetwas - ein sehr schöner, aber wie mir schien, ziemlich arroganter junger Mann. Der Scheich ließ ihn mit Parfüm besprühen, massieren und als er immer noch weiterstritt mit dem älteren, offensichtlich sicheren Mann, an dem er sich wahrscheinlich die Hörner abstoßen sollte, befahl der Scheich ihm, sich waschen zu gehen. Als er umgekleidet wiederkam, ging der Streit bald von neuem los. Wir blieben nun nicht länger. Nach Mitternacht, sagte man uns, würde es dann eine Hadra geben vor Sydna el Hussein.
Ich war jetzt hungrig und die anderen auch, aber anstatt in ein Restaurant zu gehen, gingen wir zu Leuten, die vom Mulid her noch immer da waren, um für die übriggebliebenen Gäste Essen zu kochen. In dem ganzen Stadtviertel hatte es überall diesen Dienst für die Pilger gegeben, die nach Kairo gekommen waren. Auch die Frau des Ägypters hatte auf der Straße Tee und Essen gekocht für die Leute.
Wir gingen in einen Rohbau, der innen mit Teppichen ausgelegt war. Eine Menge Leute saßen da und tranken Tee, rauchten, lauschten wunderschönen religiösen Gesängen von einem Kassettenrekorder und unterhielten sich. Im Zentrum der Gesellschaft stand ein Scheich, einer der ehrwürdig-langgesichtigen mit Bartstoppeln. Er beeindruckte mich, aber ohne Arabisch gab es da keinen Zugang, außerdem schien er auch sehr distanziert und schweigsam.
Kurz nachdem wir gekommen waren und alle begrüßt hatten, brachte ein offensichtlich gutbestallter Bürger eine große Schachtel voll mit Kuchen für alle und gleich darauf reichte man uns eine Platte mit Käse, Sardinen, Salat, Tomaten, Pommes Frites und Brot. Wir aßen und hatten Kuchen und Tee, viel Tee und viele Zigaretten.
Dann erklärte der Ägypter die Songs und Ibrahim übersetzte für mich. Es ging um die Liebe zu den Menschen, von der - nach einer Hadith - ein Augenblick mehr wert ist wie Jahre der Gottesverehrung. Der Song war zum Schmelzen schön.
"Liebe ohne Hoffnung auf Belohnung ist das einzige Ziel", sagte der Ägypter. "Selbst in der Hölle, sollte die unser Schicksal sein, würden wir über ihr Feuer nicht klagen, sondern glücklich sein, hier dienen zu dürfen für Allah."
"Genau davon", sagte Ibrahim, "habe ich in der Tarieqa wenig bemerkt." Und von wenigen Ausnahmen abgesehen, stimmte das mit meinen Beobachtungen überein. Es gab wenig Takt, dafür aber viel Streberei und Ellbogeneinsatz.
"Wer keine Freunde hat", hieß es in dem Song weiter, "für den wäre es besser, er wäre nie geboren."
Gegen halb eins gingen wir, aber noch nicht nach Hause, sondern in einen anderen Rohbau, in dem wieder Leute saßen, Tee tranken, rauchten und sich unterhielten. Es gab da keine Gespräche für mich, aber wortlose freundliche Aufnahme.
Ibrahim und Mariam mußten dann nach Hause, weil sie am Morgen ihr Kind zur Schule bringen mußten, aber als wir vor dem Dar ankamen, war dort die Hadra der Leute des Scheich Ali im Gang und wir mußten uns noch eine Weile dazusetzen, Zuckerl essen, rauchen und zuhören. Die Hadra war sehr gefühlvoll und schön, aber wesentlich weniger geordnet als die unsere. Mir war das schon beim Mulid aufgefallen, daß die Burhamia-Hadras etwas Hippiemäßiges hatten, während die Ahmedia-Hadras sehr diszipliniert verliefen und viel aggressivere Züge trugen.
Es war nach zwei, als ich schlafen
ging. Zum Morgengebet
stand ich wieder auf, schlief
aber dann noch einmal
lang in den Vormittag hinein.
Und da hatte ich einen seltsamen Traum:
Ein Mann kam zu mir, in dessen Dienste
ich später treten wollte und wir vereinbarten
einen Termin. Als der Termin kam, zu dem ich
bei ihm wegen des Jobs vorsprechen sollte, war es ein Kind, das als Bote
zwischen ihm und mir fungierte
und es kam mit der Botschaft: "Wenn du den Dienst
antreten willst, mußt du den einen der zwei Ringe
ablegen, die du trägst und zwar den gewundenen silbernen." Der
andere Ring war einfach und aus Gold. Das Kind wartete auf eine Antwort
und ich sagte: Ja warum soll ich denn diesen Ring
ablegen? Welches Recht hat denn der Mann, das von mir zu verlangen. So
eine lächerliche Kleinigkeit wie der Ring kann doch nichts ausmachen."
Als ich das gesagt hatte, ging das Kind weg
und ich sagte zu meinen Freunden: "Wenn er mich zu einem Staatsbesuch
mitnimmt, wo der Ring stören könnte,
kann ich ihn ja ablegen, aber sonst sehe ich
das nicht ein." Aber in dem Moment kam mir zum Bewußtsein, daß
das Kind mit einer negativen Antwort von mir weggegangen war, und wegen
dieser lächerlichen Kleinigkeit wie diesem Ring,
würde ich nun den Job nicht bekommen! Und so ging ich dem Kind nach
zu der Adresse, um den Mann selber zu sprechen, aber man sagte mir: "Der
Herr ist nicht zu sprechen. Er liegt
ohne Bewußtsein und kann nur durch komplizierte
Spezialinstrumente erreicht werden. Und
ihr Fall ist zu geringfügig, als daß wir diese Maschinerie in
Betrieb setzen könnten." Damit wachte
ich auf, aber mit der Hoffnung, daß ich ihn über das Kind von
meiner Einsicht in Kenntnis setzen konnte.
Offenbar handelte der Traum von meiner Beziehung zur Tarieqa. Alle Gründe wegzugehen, die gestern und schon vorher oft aufgetaucht waren, waren kurzschlüssig. Sie kamen mehr aus dem Bedürfnis Liebe zu empfangen wie dem, Liebe zu geben. Und diese Tarieqa war dazu da, das Geben zu fördern und das Nehmen zu reduzieren. Ich erlebte es jeden Tag schmerzlich und das war für mich der Beweis: Wenn ich mich beschwerte, wurde ich frustriert; wenn ich aber meine Energie freudig einsetzte, freute man sich mit mir. Ich wollte den überflüssigen Ring ablegen und in die Dienste des unbewußten Herrn treten, der zu mir durch das Kind sprach und unbedingten Gehorsam verlangte.
Am Abend traf ich die Franzosen in der Cafeteria wieder. Ich erzählte ihnen meinen Traum und meine Schlußfogerung in der Tarieqa zu bleiben. Sie gingen wieder zu Scheich Ali und ich ging in mein Stammrestaurant Fuhl-bel-udda essen.
Als ich
zurückkam, sagte mir Heeba, Scheich Gamar
habe ihm gesagt, ich könnte auch in das Hotel
ziehen, in dem ich ganz zu Anfang eine Nacht verbracht hatte und aus dem
Christina verschollen war. Am
Nachmittag hatte Scheich Gamar mir gesagt,
ich müßte am nächsten Tag
in das Dar in
Ataba ziehen, weil
der Umbau jetzt beginnen würde. Ich hatte ihm gesagt,
daß ich, selbst unter primitivsten Bedingungen, lieber hier bleiben
würde, aber er meinte, das wäre
nicht möglich. Nun also ging es doch fast.
Und endlich würde ich jetzt ein Bett
für mich
allein haben.
Am nächsten Morgen, während ich mich für den Umzug fertig machte, kam Mohammed, der mich vor kurzem zu den Heiligengräbern geführt hatte, und fragte, ob ich jetzt mit ihm nach Kaffaschukra kommen wollte. Ich hatte große Bedenken, weil ich nicht gern zu lange exklusiv mit Leuten zusammen war, mit denen ich mich kaum verständigen konnte. Aber ich stimmte zu. Heeba versprach, sich inzwischen um das Hotel zu kümmern. Wir fuhren zuerst mit der Bahn Richtung Alexandria, dann mit dem Bus weiter zum Haus seiner Familie und später mit einem Minibus zum Haus der Tarieqa dort.
Am Bahnhof in Kairo ging Mohammed sonderbarerweise nicht durch die Bahnsteighalle, sondern zuerst führte er mich außerhalb des Bahnhofs gleisaufwärts bis zu einem Tor, durch das wir aber nicht eingelassen wurden. Wir mußten also doch zurück, aber Mohammed war nicht entmutigt; nun ging er im Hauptgebäude gleich beim ersten Gleis hoch, obwohl da kein Zug stand. Als wir das Ende des Zuges am Nebengleis erreicht hatten, überquerten wir die Geleise. Mohammed sprach mit dem Lokführer, aber das war nicht unser Zug. Wir mußten noch über weitere Geleise und als wir schließlich den richtigen Zug hatten, waren die Sitzplätze schon besetzt. Wir hatten aber gute Stehplätze. Nach und nach füllte sich der Zug bis zu den Gepäcksablagen hinauf. Wir standen geschützt hinter den Türangeln, aber alle, die vor der Tür standen, mußten jedesmal ausweichen, denn die Tür öffnete wie eine Zimmertür, und das war wegen der vielen Leute sehr schwierig; bei den Stationen mußten manchmal Leute auf den schmalen Trittbrettern warten, als der Zug schon abfuhr, bis die Tür endlich geöffnet werden konnte. Und der Bus, den wir anschließend nahmen, war voll wie die Busse in Kairo. Eine Traube von Leuten hing hinten noch zur Tür hinaus.
Während wir die Dorfstraße entlang zum Haus seiner Eltern gingen, fragte mich Mohammed, wie schon zuvor einigemale um meinen Zippha. Ich hatte ihn in der Tasche.
"Die Leute hier im Dorf mögen das, wenn du einen Zippha trägst, denn die meisten sind in der Tarieqa."
Ich wunderte mich über die vielen neuen Häuser hier. Auch Mohammeds Bruder, der jetzt den Hof seiner Eltern führte, hatte ein drei Stockwerke hohes Wohnhaus angebaut. Ich fragte Mohammed danach, ob ein Bauer so viel Geld verdiente, daß er sich das leisten konnte, aber Mohammed verstand rein sprachlich nicht, was ich meinte. Er bat mich, Fotos zu machen von seiner Familie. Durch den Neubau war der Hof dunkel wie eine Höhle, so gingen wir alle aufs Dach des neuen Hauses. Dort stellte sich die ganze Familie in Reih und Glied auf und ich machte eine Serie von Dias. Dann gab es Essen: Käse, Sahne, Tomatensalat, Fleisch und Brot. Ohne zu denken, trank ich auch das Wasser aus dem Ziehbrunnen, aber es ist nichts passiert. Beim Essen fiel mir auf, daß Mohammed vor jedem Bissen, und nicht bloß zu Beginn "bismillahirrachmanirrachiem" sagte.
Als wir gegessen hatten, kamen auch die anderen Familienmitglieder herein, um fernzusehen. Wir gingen zum Dar der Tarieqa hier. Auf dem Weg dorthin trug ich nun meinen Zippha, ich konnte aber keinen Unterschied bemerken in dem, wie die Leute mich ansahen.
Das Dar hier war eine Vierzimmerwohnung in einem Wohnblock im Ortskern. Wie in Kairo schien es auch hier ständige Bewohner zu geben. Als wir ankamen, waren drei da, aber bald kamen mehr, denn es war der Abend der Hadra, an der dann an die fünfzig Leute teilnahmen. Acht davon blieben über Nacht. Alle freuten sich über meinen Besuch. Sie wollten, daß ich länger bliebe, aber ich hatte mich wieder einmal erkältet, vermutlich wegen der vielen Zigaretten bei Scheich Ali, und so fühlte ich mich nicht sehr wohl.
Zum Morgengebet standen alle auf und
wir legten uns anschließend nicht mehr
schlafen, sondern jeder machte sein Aurad
und am Vormittag ging ich mit Mohammed und
Schukri, dem Scheich der Ortsgruppe zur Gemeindebibliothek,
wo Mitglieder der Tarieqa
arbeiteten. Dort
verbrachten wir einige Stunden bei vielen Getränken und Tee. Ein
spielerischer Arabischkurs wurde für mich veranstaltet, an dem sich
alle sehr lebhaft beteiligten, sodaß
ich meinen Schnupfen beinahe vergaß.
Dann fuhr mich einer
mit seinem Motorrad zurück ins Haus
der Tarieqa. Die
anderen kamen zu Fuß nach. Wir
machten wieder Aurad, dann gab es ein reiches Mittagessen
und gegen Abend fuhr Mohammed
mit mir wieder zurück
nach Kairo. Wir nahmen mit noch zwei anderen
ein Taxi bis zum Stadtrand und von dort einen Bus.
0: Inhaltsverzeichnis
1: Ein Lehrer
wird gebraucht und er erscheint
2: Der
Lehrer wird getötet und die Reise beginnt
3: Die
Fahrt
4: Bei
den Schülern des Lehrers des Lehrers
5: Die
Deutschen kommen
7: Der
Scheich wird erwartet
8: Maulana
9: Was
nun?
l0: Meine
Fragen
11: Die
Antwort
Verzeichnis
der arabischen Ausdrücke