(1) Und ich sah, wie das Lamm eines der sieben Siegeln öffnete, und ich hörte eines der vier Lebewesen wie die Stimme eines Donners sagen: Komm! (2) Und ich sah, und sieh, ein weißes Pferd. Und der auf ihm sitzt hat einen Bogen, und ein Kranz wurde ihm gegeben. Und siegend kam er heraus und um zu siegen.
(3) Und als es das zweite Siegel öffnete, hörte ich das zweite Lebewesen sagen: Komm! (4) Und ein anderes Pferd kam heraus, ein feuerrotes. Und dem, der auf ihm sitzt, wurde die Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, damit sie einander schlachten. Und ein großes Schwert wurde ihm gegeben.
(5) Und als es das dritte Siegel öffnete, hörte ich das dritte Lebewesen sagen: Komm! Und ich sah und sieh, ein schwarzes Pferd. Und der auf ihm sitzt hat einen Waagebalken in der Hand. (6) Und ich hörte gleichsam eine Stimme inmitten der vier Lebewesen sagen: Ein Liter Weizen um einen Denar, und drei Liter Gerste um einen Denar, und das Öl und den Wein schädige nicht!
(7) Und als es das vierte Siegel öffnete, hörte ich die Stimme des vierten
Lebewesens sagen: Komm! (8) Und ich sah und sieh,
ein fahles Pferd. Und der auf ihm sitzt, sein Name ist 'Tod'. Und der Hades
folgte mit ihm. Und Vollmacht wurde ihm gegeben über ein Viertel der
Erde, zu töten mit dem Schwert und mit Hungersnot und mit Tod und
durch die Tiere der Erde.
Die ersten vier Siegel bilden eine Einheit, denn
nach der Öffnung eines jeden dieser vier ruft eines der vier Lebewesen
am Thron Gottes "komm!" und es erscheint ein Pferd mit einem Reiter.
Das Pferd ist ein Transportmittel, eine Kraft, die einen trägt. Und als erstes kommt die Kraft, die den Menschen in diese Welt trägt: Jeder Mensch kommt als Sieger, um zu siegen. Er ist schon ein Sieger, wenn er in die Welt kommt. Unter Millionen von Spermien hat er sich durchgesetzt, allen Widerständen zum Trotz. Er kommt auf einem weißen Pferd, in Unschuld, ohne Absicht, aber siegesgewiß. Er kommt, um zu siegen.
Unser ganzes Leben lang ist der Sieger da in uns. Seine Mißdeutung führt zu den kleinen und großen Anwandlungen von Größenwahn und zur Manie. Und das liegt daran, daß ein Mensch, der bereits seine Unschuld verloren hat, weil er sich ein "Ich" aufgebaut hat, durch das er sich vom Einen abgrenzt, sich mit dem Sieger identifiziert. Das kann nicht gut gehen, denn Sieger kann der Sieger nur in der Einheit sein, nur aus der Einheit heraus. Das abgelöste "Ich" hat immer eine gewisse Starre und Unbeweglichkeit, weil es aus einem Gebäude von Vor-Stellungen besteht und an diesen auch in Situationen festhält, in denen diese Vorstellungen Hindernisse sind. Und so muß jeder eingebildete Sieger auch den niederschmetternden Absturz erleben. Am deutlichsten wird das in der Depression, die auf die Manie folgt. Da kehrt sich der Sieger um in den Verlierer - und immer noch ist da die mißglückte Identifikation mit dem unter diesen Umständen erfolglosen Sieger.
Die Identifikation mit dem Sieger ist es auch, der uns guten Rat von anderen zurückweisen läßt. So schlecht es einem Menschen auch gehen mag. Es gibt kaum einen, der nicht glaubt, daß er es nicht immer noch besser weiß als alle anderen.
Nur die Demut kann einen Menschen von dieser Identifikation befreien. Dann wird das Pferd wieder weiß, und der darauf sitzt, verliert seine eigenwillige Absicht und er wird wieder eins mit seinem Ursprung. Und von da an erscheint der ursprüngliche Sieger wieder und er erscheint, um zu siegen, d.h. um das menschliche Leben zu seinem Ziel zu führen, zum Erscheinen des Menschensohnes.
Und es ist die Sehnsucht nach dem Wiedererscheinen
des ursprünglichen Siegers, die die gefallenen Menschen drängt,
nach der verlorenen Unschuld zu suchen. Die Kraft des weißen Pferdes
ist daher die erste Kraft des Gerichts, also des Reinigungsprozesses, durch
den der Mensch am Ende wieder ein wahres Ebenbild Gottes wird. (1f.)
Als das Lamm das zweite Siegel öffnet, ruft das zweite Lebewesen: "Komm!" Und nun kommt "ein anderes Pferd, ein feuerrotes, und der auf ihm sitzt, hat Macht, den Frieden wegzunehmen von der Erde."
Wieder geht es nicht um ein entferntes zukünftiges Ereignis, sondern wir alle kennen auch das rote Pferd und seinen Reiter. Auch wir reiten auch auf dieser Energieform und sie ist nicht "schlecht", sie ist Teil der Lebensenergie und sie ist lebensnotwendig. Oft wird diese Energie moralisch bewertet und verurteilt, aber ohne sie würde das Leben zum Stillstand kommen. Es ist gut, die feuerrote Energie zu kennen. Dann kann auch sie uns helfen, aus den Verstrickungen unseres Schicksals herauszufinden.
Aber auch diese Energie mißbrauchen wir, solange wir den Menschensohn in uns zugunsten unserer Vorstellungswelt verdrängen. Wenn wir das Göttliche in uns nicht mehr spüren, werden wir leicht an der falschen Stelle oder zum falschen Zeitpunkt aggressiv, entweder weil wir beherrscht sind von der Gier nach all dem Guten, das wir mit allen Mitteln erreichen wollen, oder/und weil wir Angst haben und in unserer Angst auf alles treten, was sich unter uns befindet. Auch wenn wir in keinen großen Kampf verwickelt sind, wer kennt nicht die täglichen kleinen Sticheleien, mit denen wir uns gegenseitig das Leben schwer machen und die wir zu brauchen scheinen, solange wir uns als zu kurz gekommen betrachten.
Einen, dem sein göttliches Wesen zum Bewußtsein gekommen ist, trägt das rote Pferd aus der Gefahrenzone hinaus. Er setzt sein Schwert ein, wie die Israeliten es eingesetzt haben auf ihrem Weg ins Gelobte Land und behält es in der Hand, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Auch Jesus hat es eingesetzt, nicht um irgendwelche Vorstellungen durchzusetzen, sondern für das Ziel des menschlichen Lebens, das Einssein.
Weil die Menschen nicht eins sind, benützen
sie diese Energie, um sich gegenseitig abzuschlachten. Und indem sie den
Frieden gegeneinander aufheben zeigen sie, daß sie keinen Frieden
haben. Und so steigert das Feuer dieser Kraft auch die Sehnsucht nach dem
wirklichen Frieden, so wirkt auch diese Kraft als eine Kraft des Gerichts.
(3f.)
Und als das Lamm das dritte Siegel öffnet, ruft das dritte Lebewesen: "Komm!" Und da kommt "ein schwarzes Pferd, und der auf ihm sitzt, hält eine Waage in seiner Hand."
Die schwarze Energie ist die des Abwägens, des Schätzens, des Messens, des Einteilens, des Vergleichens, der Berechnung. Auf dem schwarzen Pferd sitzen wir, wenn wir uns auf dem Markt bewegen, in der Welt der Arbeit und des Lebensunterhalts.
Was wir zum Leben brauchen, kostet etwas. Wenn wir uns Teurere nicht leisten können, bekommen wir das, was wir brauchen, auch für weniger. Das gilt es abzuwägen. Doch im Abwägen sollte sich unser Leben nicht erschöpfen.
Im Abwägen und Berechnen tritt jene Seite unserer Existenz hervor, die zum Sündenfall geführt hat. Diese Seite hat zwar ihre Berechtigung, ja sie ist notwendig für unser Leben, doch darf sie nicht alles beherrschen: "Das Öl und den Wein schädige nicht!", heißt es daher. Bei aller nötigen Kalkulation muß es möglich bleiben, die guten Dinge zu genießen. Die schwarze Energie des Rechenstifts darf uns die Lebensfreude nicht nehmen.
Die Kraft des Einteilens und der Berechnung hat unsere Form der Zivilisation ermöglicht, Wissenschaft und Technik. Wir reden von Fortschritt, doch was ist dieser Fortschritt im Hinblick auf unser Lebensziel? Und können wir die guten Dinge des Lebens überhaupt noch genießen oder ersticken wir im Streß?
Die schwarze Energie ist nicht nur schwarz wegen der Tinte, in die das Berechnen fließt, sondern vor allem wegen der heillosen Lebensunlust, in die ein Leben der Berechnung mündet. Die Berechnung beruht ja auf Vor-Stellungen, auf Erfahrungen, auf der Wiederholung bekannter Abläufe und führt leicht zur Illusion der Machbarkeit. Und umsomehr ein Mensch sein Leben von da her lebt, aus der Kraft seiner Berechnung, "aus eigener Kraft", umso langweiliger, dunkler und sinnloser wird seine Existenz.
Mit der ersten Unterscheidung von gut und schlecht begannen die Menschen ihre Vorstellungswelt aufzubauen und ihr Leben zu berechnen. Sie verzichteten auf Spontaneität und handelten nach Berechnung, weil sie das Unangenehme vermeiden wollten, doch ihre Kriterien trafen die Wirklichkeit nie ganz und so blieb der Erfolg letztlich aus. Statt das nur-Gute zu erreichen, wurde ihr Leben schwer und hart und dunkel.
Und doch geht es im Leben nicht ohne Berechnung,
es geht nur um den richtigen Ort und darauf macht uns dieses Bild aufmerksam.
(5f.)
Und als das Lamm das vierte Siegel öffnet, ruft das vierte Lebewesen: "Komm!" Und da kommt "ein chlorfarbenes Pferd. Und der auf ihm sitzt, heißt 'Tod'."
Die vierte Kraft, die die Menschen bewegt, ist der Tod. Was tun Menschen nicht alles und was unterlassen sie nicht alles aus Angst vor dem Tod.
Der Tod, von dem hier die Rede ist, ist nicht der normale Tod am Ende eines erfüllten Lebens oder ein anderer unschuldiger Tod, es ist der Tod als Folge der Sünde. Die Menschen wollten ja durch ihre Unterscheidung von gut und schlecht das Unangenehme vermeiden und umsomehr sie es schafften, umso erschreckender wurde die Tatsache, daß sie das letzte "Übel", den Tod, nicht vermeiden konnten. Hatten sie zuvor, im Paradies, ein Leben der Hingabe gelebt, in dem sie akzeptierten, was kam, also auch den physischen Tod, so sahen sie nach dem Sündenfall das Schreckgespenst "Tod" hinter jeden Ecke. Sie hatten kein Vertrauen mehr, sie lebten in ständiger Angst vor Schwert, Hungersnot, Krankheit und wilden Tieren. Und gerade dadurch ziehen sie diesen Tod magisch an, wie die Ägypter die Plagen. Ein Viertel der Menschheit ist wie hypnotisiert vom Tod und von dessen gespenstischen Gefährten und sie fällt ihm zum Opfer.
Doch der Tod kann einen Menschen auch zur Umkehr
bringen, zur Besinnung auf das Wesentliche, denn angesichts des Todes werden
- für die, die von ihm nicht hypnotisiert sind - viele Dinge unwichtig.
Statt dessen wird die Sehnsucht nach echter Menschlichkeit spürbarer,
nach dem Erscheinen, nach der Wiederkehr des Menschensohnes - nicht irgendwo
draußen auf einer Regenwolke, sondern hier. Das Bewußtsein
des Todes kondensiert die Wolke des Nichtwissens und aus ihr erscheint
schließlich der Menschensohn in uns. Und so ist der Tod eine ganz
besondes starke Kraft des Gerichts, die uns entweder vernichten oder zur
Besinnung bringen kann. (7f.)
Zum Inhaltsverzeichnis
Zur Vorbemerkung
Zum Beginn des Kommentars: Der Mensch, der sehen
kann, was es mit dem menschlichen Leben auf sich hat (1-6)
Zu den Adressaten des Sehers:
Die Menschen, an die er sich wenden kann, bei
denen eine Aussicht besteht, daß sie seine Botschaft hören (7-13)
Zu: Gewisse Menschen haben eine vollkommene Einsicht
in das Wesen des Lebens (14)
Zu: Die meisten Menschen begreifen das Leben nicht;
sie finden nur falsche Antworten (15)
Zu: Die Besiegelung derer, die sich besinnen (17-18)
Zu: Das siebte Siegel: Zunächst Stille, die
Ruhe vor dem Sturm (19)
Zu: Sie ersten sechs "Trompeten" (Warnrufe) (20-22)
Zu: Himmlische Botschaften werden an die gepeinigte
Menschheit gesandt (23-25)
Zu: Die siebte Trompete: Gottes Herrschaft ist wiederhergestellt
(26)
Zu: Die Frau und der Drache (27-29)
Zu: Die spektakulären, aber illusionären
Phänomene des Ego verführen die meisten (30-32)
Zu: Die Wahrheit zeigt sich (33-42)
Zu: Eine Zeit der Harmonie, die Wiederkehr des
Ego und seine erneute Zerstörung (43-44)
Zu: Angesichts des Todes zeigt sich die Wirklichkeit
(45)
Zu: Das Leben nach der Vernichtung des Ego (46-48)
Zu: Das eben Beschriebene wird in Kürze geschehen
(49)
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